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Anhörung Enquete-Kommission „Demographischer Wandel – Herausforderung an ein zukunftsfähiges Niedersachsen“ am 11. Januar 2007

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung zu einer Anhörung in der Enquete-Kommission und die Gelegenheit zur Stellungnahme zum Thema „Soziales“. Wir freuen uns, die Arbeit der Enquete-Kommission, die wir für außerordentlich wichtig halten, unterstützen zu können.

In unserer Stellungnahme beschränken wir uns auf die Gliederungspunkte II Ältere Menschen in der Gesellschaft und Ziff. 2 Anforderungen an eine altengerechte Gesellschaft - Handlungsansätze. Wie von Ihnen gewünscht, orientieren wir uns an den von Ihnen vorgegebenen Gliederungspunkten.

II. Ältere Menschen in der Gesellschaft

2. Anforderungen an eine altengerechte Gesellschaft – Handlungsansätze

Die Arbeit der Kommission stützt sich gemäß dem Landtagsbeschluss vom 19.05.2005 auf bereits vorhandene Daten und Analysen. Aus diesem Grunde sehen wir von Ausführungen zu den zu erwartenden Veränderungen im Altersaufbau und insbesondere der Entwicklung pflegebedürftiger Menschen ab. Auch liegen mit dem 2006 veröffentlichten Landespflegebericht fundierte Daten zur Entwicklung des zukünftigen Pflegebedarfs vor.

Zum besseren Verständnis unserer Stellungnahme soll jedoch kurz skizziert werden, von welchen Entwicklungen wir ausgehen:

Aufgrund der höheren Lebenserwartung gibt es erstmals eine Generation, die nach der Familienphase und nach dem Erwerbsleben einen eigenständigen Lebensabschnitt hat, den sie bei relativer Gesundheit aktiv, vital und selbständig gestaltet. Die Fähigkeiten älterer Menschen sind erkennbar größer geworden. Keine Altengeneration jemals zuvor war so gesund, so gut ausgebildet, verfügte über ein so großes Spektrum an Kompetenzen und Interessen, keine war finanziell so gut abgesichert. Und vor allem: Keine Altengeneration zuvor hatte eine positivere Einstellung zum eigenen Alter.

Andererseits geht mit einer höheren Lebenserwartung eine Zunahme chronisch kranker und mehrfach erkrankter Menschen einher. Genannt seien Altersdiabetes, Krebs, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vor allem Demenz und depressive Erkrankungen. In den nächsten Jahrzehnten wird sich die Zahl der hochaltrigen Menschen (über 80 Jahre) mehr als verdoppeln. Mit zunehmendem Alter steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden. Von besonderer Bedeutung ist die Entwicklung bei den Hochbetagten, d.h. Menschen, die 80 Jahre und älter sind. Das Risiko, an einer altersbedingten Demenz oder anderen Krankheiten des gerontopsychiatrischen Formenkreises zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter deutlich an.

Die Prävalenz liegt bei den über 65-Jährigen bei acht Prozent, wobei jeweils ungefähr ein Drittel an einer leichten, mittelschweren oder schweren Form leidet. Bei den bis zu 70-Jährigen erkranken ein bis zwei Prozent, bei den 80-Jährigen ca. 15 Prozent und bei den über 90-Jährigen ca. 30 Prozent. Die Zahlen zeigen aber auch, dass etwa zwei Drittel der über 90-Jährigen nicht an einer Demenz leiden werden (vgl. Müller-Thomsen: Sozialpsychiatrie und der alternde Mensch, Soziale Psychiatrie 04/2006).

Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Zahl allein lebender Menschen, die keine Unterstützung durch einen Lebenspartner, Kinder oder einen engen Freundeskreis haben, in den nächsten Jahren zunehmen wird. Gleichzeitig zeigen Umfragen aber auch, dass – wie erwähnt - in erster Linie Pflege in der vertrauten häuslichen Umgebung gewünscht wird. Für diesen Personenkreis sind nachweislich mehr externe Hilfen notwendig (vgl. Blinkert, B.: Pflege im sozialen Wandel: Eine Untersuchung über die Situation von häuslich versorgten Pflegebedürftigen nach Einführung der Pflegeversicherung. Hannover 1999). Dort, wo Kinder und Angehörige vorhanden sind, wird jedoch durch die prekäre Arbeitsmarkt- und Einkommenssituation sowie durch veränderte Familienmodelle die Bereitschaft zur Übernahme der häuslichen Pflege unter Einschränkung der eigenen Erwerbstätigkeit sinken.

Damit sind die Bereiche umrissen, in denen wir für das Land Niedersachsen Handlungsbedarf sehen: Neben einem veränderten Bild des Alters sehen wir Handlungsbedarf bei der Gesundheitsversorgung, insbesondere der Rehabilitation und Pflege, und in der Unterstützung im Vorfeld und Umfeld einer Pflegebedürftigkeit, um insbesondere den Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung so lange wie möglich hinauszuzögern.

2.1. Positives Altersbild schaffen

Es gibt nach wie vor eine deutliche Diskrepanz zwischen den Vorstellungen von „dem“ Alter und den tatsächlichen Lebensformen, Verhaltensweisen und Einstellungen vieler Älterer. Ein sozialer Wandel vollzieht sich innerhalb der älteren Generation. Neue Altengenerationen wachsen nach mit anderen biografischen Erfahrungen und daraus resultierenden veränderten Einstellungen und Erwartungen an die nachberufliche Lebensphase. Ältere Menschen sind heute gesünder, besser ausgebildet und meist auch sozial und materiell besser gestellt als frühere Altengenerationen. Sie verfügen über ein hohes Maß an Ressourcen und Kompetenzen. Eng damit verbunden ist eine zunehmende Lernbereitschaft der Älteren. Die klassische Dreiteilung der Lebensabschnitte in Lernen, Arbeit im mittleren und Freizeit im letzten Lebensabschnitt trifft eher nicht mehr zu.

Dennoch dominieren in weiten Teilen der Gesellschaft eher negativ geprägte Vorstellungen vom Alter. Die in den Medien transportierten Bilder sind häufig stereotyp und polarisierend. Ältere werden entweder als hilfe- und pflegebedürftig dargestellt oder als gut situierte Egoisten, für die Freizeitgestaltung und Konsum im Vordergrund stehen. Das dies den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird, ist u.a. eine Folge fehlender Rollen und Rollenerwartungen für Alte (vgl. Klaus Dörner: Altern ist anders, Soziale Psychiatrie 114: „Gepflegt alt werden“).

Negative Altersstereotype wirken sich nachteilig sowohl für die Älteren als auch für die Gesellschaft aus. Sie beschränken die soziale Teilhabe und gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten Älterer und tragen dazu bei, dass die Potentiale und Ressourcen des Alters nicht angemessen wahrgenommen und genutzt werden.

Hier setzt das Bundesmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiativen“ (EFI) an. Mit Hilfe eines innovativen Weiterbildungsangebotes und durch die Unterstützung lokaler Agenturen für Bürgerengagement werden die Ressourcen und Kompetenzen der Älteren und ihre Verantwortungs- und Engagementbereitschaft zur Entfaltung gebracht. Entwickelt wurde eine neue Verantwortungsrolle „senior Trainerin“ und damit neue Möglichkeiten für engagementinteressierte Ältere geschaffen, ihr Erfahrungswissen in die Gesellschaft einzubringen. Die inzwischen über 460 aktiven senior Trainerinnen sind mit ihrem Engagement Botschafter für ein neues Altersbild. Sie zeigen:

  • Ältere übernehmen Verantwortung für das Gemeinwesen,
  • Ältere Menschen haben einen Platz in der Mitte der Gesellschaft,
  • Erfahrungswissen besitzt eine hohe Wertigkeit,
  • Ältere Menschen zeigen gelebte Generationensolidarität,
  • Engagement für andere vermittelt Lebenssinn und Lebensfreude.

Auch der SoVD Niedersachsen hat im vergangenen Jahr die bundesweite Kampagne „Gut tun tut gut“ gestartet, um die Potentiale der Älteren zu nutzen. Ziel der Kampagne ist es, Menschen zu ermutigen und zu motivieren, für andere da zu sein. Ein wichtiges Medium bildet bei dieser Kampagne das Internet. „Gut-tun-Interessierte“ können sich hier über die Kampagne informieren und sich als freiwillige Helfer und Hilfe Suchende anmelden.

Gesellschaft und Wirtschaft müssen sich verstärkt auf die Interessen und Bedürfnisse der Älteren einstellen. Nordrhein-Westfalen hat mit einer Seniorenwirtschaft reagiert, die Niederlande planen eine Stadt für Ältere und auch Niedersachsen hat mit unterschiedlichen Programmen reagiert: Landesinitiative generationengerechte Produkte, Sonderprogramm zur Qualifizierung älterer Arbeitnehmer sind einige Beispiele dafür.

Produkte und Dienstleistungen speziell für ältere Menschen werden nicht nur dem veränderten Bedarf einer älter werdenden Gesellschaft gerecht, sondern bieten dem Handwerk große Chancen, sich am Markt zu behaupten. Wird dieser Bereich systematisch genutzt und weiterentwickelt, bedeutet er außerdem einen Zugewinn an Arbeitsplätzen und ist ein wirtschaftlicher Standortfaktor. Die Geschäftspolitik und Beratungskompetenzen der Handwerksorganisationen müssen ausgebaut werden, um sich auf die Bedürfnisse der Älteren einzustellen. Insofern können Angebote und Dienstleistungen bereit gestellt werden, die sich auf die oft sehr qualitätsbewussten Seniorinnen und Senioren ausrichten (altengerechte, barrierefreie Umbauten in Häusern und Wohnungen, Dienstleistungsangebote wie Essen auf Rädern, Gartenarbeit, Haushaltshilfen etc.). Seniorenmärkte sind der Wachstumsbereich der Zukunft – Wirtschaft und Handwerk müssen flächendeckend reagieren, um den Bedürfnissen der Älteren Rechnung zu tragen.

2.2. Förderung von Gesundheit und Selbständigkeit im Alter

Gesundheitsförderung entsprechend der in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) niedergelegten Grundsätze stellt u.a. Partizipation, Befähigung zu eigenverantwortlichem und selbstbestimmten Handeln in den Mittelpunkt. Insofern dienen alle Unterstützungsleistungen zum Erhalt eines eigenständigen Lebens auch der Gesundheitsförderung. Maßnahmen der Gesundheitsförderung haben vor allem

  • der Einsamkeit allein lebender Menschen entgegenzuwirken,
  • Rehabilitation und Pflege zu verstärken,
  • eine bessere und alle erkrankten Menschen erreichende gerontopsychiatrische Versorgung zu befördern.

Zur Vermeidung oder Abmilderung von Einsamkeit gibt es interessante Ansätze, wie sie in dem Modellversuch „Präventiver Hausbesuch“ in Nordrhein-Westfalen oder in dem Forschungsprojekt der AOK Niedersachsen „Gesund Älter Werden“ erprobt wurden bzw. werden. Sie können helfen, der Einsamkeit zu entkommen und einer depressiven Erkrankung entgegenzuwirken. In dem Projekt der AOK geht es zum einen um ganz konkrete alltägliche Fragen wie: ist meine Wohnung altengerecht und sturzsicher? Wie werde ich beweglicher oder wie kann ich mir den Alltag erleichtern? Zum anderen werden Fragen angesprochen, das Leben aktiver zu gestalten, Angebote im Stadtteil oder in der Stadt zu nutzen. Senioren werden von Gesundheitsberatern zu Hause beraten. Entscheidend für derartige Hilfen ist es, geeignete Zugangswege zu den alten Menschen zu finden und sie über eine aufsuchende Hilfe in ihrer Wohnung zu besuchen.

Mit zunehmendem Altern der Bevölkerung verändern sich die Anforderungen an Rehabilitation und Pflege. Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ (§ 5 SGB XI) wird in der Praxis jedoch so gut wie nicht beachtet. Obwohl der gesetzliche Auftrag insoweit eindeutig ist und obwohl bekannt ist, dass mit einer richtigen Rehabilitation Pflegebedürftigkeit verhindert oder hinausgezögert werden kann, findet reaktivierende Pflege (z.B. Kontinenztraining, Mobilisation) kaum statt.

Aus Schilderungen am Pflege-Notruftelefon wissen wir, dass nach einem Krankenhausaufenthalt und bei (Fort-) Bestehen einer Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit der Umzug in ein Pflegeheim zurzeit oft allzu schnell eingeleitet wird. Dies wäre jedoch der richtige Zeitpunkt für eine reaktivierende Pflege. Die Wiederherstellung zum Beispiel der Gangsicherheit hilft, Stürze zu vermeiden. Statt einer Mobilisation wird der vermeintlich leichtere und sichere Weg in eine stationäre Einrichtung gewählt. Aus den Gesprächen am Pflege-Notruftelefon wird auch deutlich, dass in diesen Situationen Anlaufstellen fehlen, die Information und Unterstützung zur Organisation rehabilitativer und pflegerischer Maßnahmen anbieten. Auf sich allein gestellt, sind Angehörige oder andere Personen oft überfordert und stimmen einem Umzug in eine Pflegeeinrichtung zu.

Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer tatsächlich aktivierenden Pflege haben verschiedene Gründe, zu der auch die Trennung zwischen Kranken- und Pflegekasse gehört. Krankenkassen als Träger von Leistungen der Rehabilitation haben keinen Nutzen, sondern nur höhere Ausgaben, während sich mögliche Einsparungen bei den Pflegekassen einstellen. Für Betroffene und Einrichtungsträger ist eine Verbesserung der Hilfebedürftigkeit mit einer Rückstufung in den Pflegestufen und damit mit weniger Geld verbunden, so dass auch aus diesen Gründen keine Motivation für eine Rehabilitation besteht.

Notwendig ist aber auch ein Bewusstseinswandel, welches Ziel mit einer Rehabilitation verfolgt wird. Ziel kann nicht sein, einen bestimmten Zustand bis zum Lebensende konstant zu erhalten. Es geht vielmehr um das Bewahren oder Wiederherstellen jeweils vorhandener Möglichkeiten und Fähigkeiten des alternden Menschen vor der Pflege oder in der Pflege (vgl. Rehabilitation und Pflege im Spannungsfeld des demographischen Wandels, Tagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation e.V. und des Instituts für Medizinische Soziologie (ZHGB) am 13.09.2002 in Berlin).

Gerontopsychiatrische Versorgung

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Deshalb kommt der gerontopsychiatrischen Versorgung eine besonders wichtige Aufgabe zu. Es hat sich in diesem Bereich in den letzten Jahren einiges getan, zum Beispiel die Gedächtnissprechstunde, Tagesstätten mit Gruppenangeboten oder niedrigschwellige Betreuungsangebote. Allerdings erhält nur ein kleiner Teil der Kranken eine angemessene Therapie. Insbesondere ist ein massives Gefälle an Angeboten zwischen Stadt und Land festzustellen.

Viele Untersuchungen belegen, dass bei frühzeitiger Diagnose und entsprechender Therapie etwa mit Antidementiva der Krankheitsverlauf verlangsamt werden kann. Da etwa 90 % der Demenzkranken von Hausärzten behandelt werden, haben sie bei Früherkennung und Therapie eine wichtige Aufgabe. Leider verfügen viele Ärzte aber nicht über ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen, um diesen Aufgaben gerecht zu werden. Ziel muss deshalb sein, Hausärzten zumindest demenzspezifische Basisqualifikationen zu vermitteln (vgl. H. Melchinger und W. Machleidt: „Hausärztliche Versorgung von Demenzkranken“, Nervenheilkunde 6/2005).

Es sind außerdem flächendeckend ambulante gerontopsychiatrische Behandlungsnetze zu schaffen, um die Zunahme stationärer Behandlung zu stoppen. Je weniger Angehörige oder Bezugspersonen zur Verfügung stehen, desto eher kommt es zu einer stationären Aufnahme. Die Stadt Hannover ist mit dem ambulanten Gerontopsychiatrischen Zentrum und der Vernetzung u.a. mit dem sozialpsychiatrischen Dienst und einer aufsuchend arbeitenden Nervenarztpraxis recht gut versorgt. Im Einzugsbereich des Landeskrankenhauses Wunstorf zum Beispiel besteht aber nur in Hannover ein solches Behandlungsnetz.

Auch werden bei demenziellen Erkrankungen die Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten unterschätzt und es wird als unvermeidliche Folge der Krankheit von einem chronischen Verlauf ausgegangen. Gleichzeitig erfolgt häufig keine genaue Diagnose, so dass auch die Therapie unzureichend bleibt (vgl. Pflegestrukturen der Zukunft. Das wachsende Problem der Demenz, Loccumer Protokolle 56/05).

Eine angemessene und ausreichende Gesundheitsversorgung macht ähnlich wie bei der Rehabilitation ein Umdenken notwendig: nicht Heilung kann oft das Ziel sein, sondern Erhalt der Selbständigkeit, Hinauszögern der Pflegebedürftigkeit und Verbesserung der Lebensqualität auch im Alter.

Selbständigkeit im Alter

Der überwiegende Teil der Menschen will auch im Alter selbständig leben und viele werden das auch erleben. Bestimmte Rahmenbedingungen sind jedoch notwendig, um diese Wünsche in die Tat umsetzen zu können. Unterstützungsbedarf besteht im Vorfeld von Pflege mit Wohnberatung und Anpassung der Wohnung, veränderten Wohnformen wie Betreutes Wohnen oder Betreutes Wohnen Zuhause mit Hol- und Bringdiensten oder im Dorfladen zum Erhalt der Grundversorgung.

Die notwendige Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben im Alter ist für Betroffene jedoch häufig nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten greifbar. Das existierende breit gefächerte Hilfeangebot ist oft schwer überschaubar und stark fragmentiert. Vielen Menschen fehlen nicht nur die Kenntnis und der Überblick, es gelingt ihnen oftmals auch nicht, ohne professionelle Unterstützung einen Zugang zu ihnen zu finden und sie so zu kombinieren, dass sie die Gesamtheit ihres Hilfebedarfs ausreichend und langfristig abdecken. Die Selbständigkeit im eigenen Haushalt kann deshalb häufig nicht auf Dauer sichergestellt werden und/oder die Pflegesituation ist so prekär, dass ein Umzug in ein Heim erforderlich wird.

Verschiedene Leistungsträger bieten zwar Beratung an, diese ist aber weitgehend auf die eigenen Leistungsangebote beschränkt oder bezieht sich auf den bereits eingetretenen Bedarfsfall (Pflege i.S. des SGB XI). Sie ist außerdem nicht auf eine kontinuierliche Begleitung angelegt, die auf der Basis einer differenzierten Kenntnis der individuellen Problem- und Bedarfslagen in der Lage wäre, auf wechselhafte gesundheitliche Entwicklungen rasch und adäquat durch eine Anpassung des jeweiligen Spektrums der erhaltenen Hilfen zu reagieren. Leistungs- und trägerübergreifende integrierende Beratung und zielgerichtete, individuelle Unterstützung zur Optimierung des erforderlichen Hilfemix zur Vermeidung oder Hinauszögerung von Pflegebedürftigkeit sind bislang noch schwach entwickelt. Es fehlt vor allem eine koordinierende Unterstützung zur Bündelung und Harmonisierung formeller und informeller Hilfen, pflegerischer, hauswirtschaftlicher und betreuender Hilfen.

Das bestehende Informations- und Beratungsangebot ist also durch eine persönliche, fallbezogene Begleitung (Case Management) zu ergänzen. Dabei ist eine auf den individuellen Bedarf abzustimmende Unterstützung zu organisieren, die formelle und informelle Hilfen mobilisiert und koordiniert. Entscheidend ist, den Zugang zu Angeboten zu ebnen und Ressourcen der sozialen Umgebung mit einzubeziehen. Der Vorteil einer längeren Begleitung ist die Möglichkeit, auf einen veränderten Unterstützungsbedarf zeitnah reagieren und ihn anpassen zu können.

Für ein solches Beratungsangebot (Pflege- und Wohnberatungsstellen) fehlt es bislang an einer gesetzlichen Grundlage zur Refinanzierung. Sie ist jedoch Voraussetzung, damit entsprechende Beratungsangebote flächendeckend geschaffen werden können. Zwar wird der SoVD in seinem Modellprojekt „Case und Care Management“ im Rahmen trägerneutraler Pflegeberatung auch eine Eigenbeteiligung der Ratsuchenden erproben und evaluieren. Sie wird jedoch in keinem Fall ausreichen, ein solches Beratungsangebot zu finanzieren. Auch wenn ein Beratungsangebot mit Case und Care Management im Rahmen des Modellprojektes des SoVD jetzt erprobt wird, sollte die Diskussion über Finanzierungsmöglichkeiten bereits jetzt beginnen. Das Ziel muss sein, nicht nur modellhafte, sondern dauerhafte Beratungsstrukturen zu schaffen.

Unterstützung Angehöriger durch eine Pflegezeit

Wie eingangs erwähnt, wird die Bereitschaft zur Übernahme häuslicher Pflege unter Einschränkung der eigenen Erwerbstätigkeit sinken. Diese Bereitschaft kann gefördert werden, wenn Angehörige nicht gezwungen sind, sich für die Pflege aus ihrem eigenen Erwerbsleben zu verabschieden und damit ihre finanzielle Unabhängigkeit und eigene Altersvorsorge aufgeben zu müssen.

Bereits die von 1992 bis 2002 tätige Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ hat in ihrem Abschlussbericht (BT-Drs. 14/8800 vom 28.3.2002) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Erwerbstätigkeit und Pflege besser vereinbar sein müssen. Nach Ansicht der Kommission sei

„die Rationalisierung der Versorgungsstrukturen und die Vermeidung von Anreizen für einen Umzug ins Heim … ohne systematisch angelegte Stützung von Pflegehaushalten nicht zu erreichen. Notwendig wären z. B. Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege (z. B. durch einen zeitlich begrenzten Pflegeurlaub für Pflegepersonen nach dem Vorbild des Elternurlaubs, flexible Arbeitszeitregelungen …“ (S. 267, Hervorhebung durch Verf.).

Mit dem vom SoVD vorgeschlagenen Pflegezeitgesetz soll die Diskussion neu belebt werden. Es greift die schwierige Situation erwerbstätiger Pflegepersonen auf und unterstützt damit den Grundsatz „ambulant vor stationär“, denn es ermöglicht diesen Pflegepersonen bei akutem Pflege- oder Krankheitsfall oder zur Sterbebegleitung flexibel eine Auszeit zu nehmen bzw. ihre Arbeitszeit zu reduzieren ohne ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Innerhalb der Pflegezeit kann der Pflegebedarf reflektiert und eine professionelle Hilfe zur Pflege organisiert werden. Das dient nicht nur der psychischen und physischen Entlastung der Pflegenden, sondern entspricht mehrheitlich auch dem Wunsch und dem Interesse der pflegebedürftigen Menschen.

Vorgesehen ist eine Freistellung bis zu sechs Monaten mit der Möglichkeit der einmaligen Verlängerung für weitere sechs Monate.

Zusammengefasst werden mit einer Pflegezeit folgende Ziele verfolgt:

  1. Stärkung der häuslichen Pflege und damit stärkere Berücksichtigung des Wunsches pflegebedürftiger Menschen, so lange wie möglich zu Hause zu verbleiben,
  2. bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege – Entlastung und Unterstützung pflegender Angehöriger,
  3. bessere gesellschaftliche Anerkennung der Pflege ähnlich wie die Elternzeit (NRW-Pflege-Enquete: Angehörige sind der größte Pflegedienst der Nation),
  4. Entlastung und Unterstützung pflegender Angehöriger,
  5. Pflege selbst auszuüben bzw. die Pflege zu organisieren,
  6. Beantragung von Leistungen, unterstützende Angebote in der Nähe, Auswahl eines qualifizierten Pflegedienstes.

Schluss

Ein besonderes Augenmerk sollte auf die unterschiedliche Entwicklung der Versorgung zwischen Stadt und Land gelegt werden. Als Flächenland gibt es in Niedersachsen nach unserer Beobachtung ein Gefälle zwischen Stadt und Land, wie bei der gerontopsychiatrischen Versorgung angedeutet, wenngleich bereits viele Kommunen mit der Sozial- und Altenhilfeplanung begonnen haben. Insoweit ist auf eine flächendeckende Umfrage im Flächenstaat Bayern hinzuweisen, in der die besonderen Bedarfe und Lösungsmöglichkeiten des demographischen Wandels in den ländlichen Regionen ermittelt wurden (vgl. Altenhilfe im ländlichen Raum, Pro Alter 04/2006). Eine ähnliche Umfrage können wir uns auch für Niedersachsen als weiterführend vorstellen.

Es gibt inzwischen eine große Zahl von Modellvorhaben und Forschungsprojekten, die sich mit der Frage der Versorgung älterer und alter Menschen in der Zukunft beschäftigen und die für die Dauer des Projektes Angebote zur Verfügung stellen. Außerdem liegen viele Erkenntnisse aus abgeschlossenen oder noch laufenden Modellvorhaben bereits vor. Modelle erreichen aber immer nur einen kleinen, privilegierten Personenkreis. Notwendig ist deshalb die Bereitschaft, mit dem Aufbau dauerhafter Versorgungsstrukturen zu beginnen. Dafür brauchen wir Ideen für die Finanzierung und den politischen Willen zur Umsetzung. Die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Einrichtung einer flächendeckenden Pflegeberatung wäre ein erster, wichtiger Schritt in Niedersachsen.

Wir hoffen, dass die Arbeit der Enquete-Kommission dazu beiträgt, die Bereitschaft zur Umsetzung zu fördern.

 

Hannover, 09. Januar 2007

 

Der Landesvorstand

 

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